Es waren die ersten Tage im März. Die Stadt erwachte langsam aus ihrem zu Boden starrenden Winterschlaf. Die ersten Knospen zeigten sich auf den so rar aufgestellten Bäumen. Die ersten Blüten streckten ihre Köpfe dem morgendlichen Regenguss entgegen. Die ersten Sonnenstrahlen des Tages jedoch ließen auf sich warten, während es in der Wohnung so kalt war wie eh und je.
Wenn man überhaupt von einer Dämmung in Wohnungen dieser Art sprechen konnte, so hatte diese nichts mit der modernen Welt gemeinsam. Beinahe schon Jahrhunderte an Fortschritt ließ sie vorüberziehen, ohne sich davon sonderlich beeindrucken zu lassen. In stillen Momenten hörte man den Wind durch die winzigen Löcher pfeifen. Und stille Momente gab es auf diesen wenigen Quadratmetern zuhauf. Das leise Pfeifen des Windes, das Knarzen der alten Holzdielen, die eiligen Schritte der Nachbarn von oben – das waren die wenigen Klänge, die diesen von in die Jahre gekommenen Wänden umgebenen Raum tagsüber erfüllten. In den frühen Morgenstunden mischte sich unter diese Begleiter der Stille für wenige Minuten das Geräusch von fließendem Wasser, für die morgendliche Dusche des Bewohners. Während sich in den späten Abendstunden die Stimme des Nachrichtensprechers immer wieder mit sanften musikalischen Klängen abwechselten.
Kaum einer der anderen Bewohner dieses Hauses wusste, wer hinter dieser Holztür sein Leben verbringt. Die Wenigen, die ihm für einen kurzen Moment schon einmal im Flur begegnet waren, ließ er nach einer schlichten Begrüßung stehen, ohne sich jemals in ein Gespräch verwickeln zu lassen. Für alle anderen war er schlicht nicht existent, ebenso wenig wie sie es für ihn waren.
Nicht einmal er selbst wusste noch genau, wie lange er dort bereits lebte – Monate? Jahre? Jahrzehnte? Die meiste Zeit, die er dort verbracht hatte, verschwamm in seiner Erinnerung in einem Einheitsbrei aus Grautönen. Und dennoch gab es sie, die Zeit dort in diesen Räumen, in der er glücklich gewesen war, in der Lachen durch die Räume schallte, in der Knistern in der Luft lag und Liebe den Raum erfüllte. Aber diese Tage waren bereits so lange her, dass sie lediglich ab und an als zarte Geistern einer weit entfernten Erinnerung durch die Räume tanzten.
Seit geraumer Zeit klingelte jeden Morgen um 6:37 sein Wecker. Er hielt nicht viel von gesellschaftlichen Konventionen und ebenso wenig davon Uhrzeiten in mundgerechte Häppchen von fünf oder zehn Minuten einzuteilen. Jede Minute seines Lebens war ihm ebenso viel wert – oder eben nicht – wie jede einzelne andere.
Jeden Morgen stand er auf, knipste die kleine antike Lampe an, die seit Jahren seinen Nachttisch schmückte und gerade einmal so viel Licht abwarf, dass es möglich war unfallfrei ins benachbarte Bad zu gelangen, wo er sich mit dem eisig kalten Wasser der jahrhundertalten Leitungen das Gesicht wusch und die Zähne putzte.
Ohne ein Wort zu sprechen, stieg er unter die Dusche, ließ für einige Minuten lauwarmes Wasser über seinen Körper fließen und ging zurück ins Schlafzimmer, wo bereits, fein säuberlich gestapelt, seine am Vorabend von ihm zurechtlegente Kleidung auf ihn wartete. Er zog sich an, klemmte seine Tasche, die er bei seiner gestrigen Ankunft an der Garderobe hatte liegen lassen, unter seinen linken Arm und ließ wie jeden Morgen die Tür hinter sich ins Schloss fallen.
Wenn man es nur schaffte sich auf den Rhythmus zu konzentrierten, konnten seine schnellen leisen Schritte, trotz all der Stille, die sie begleitete, beinahe etwas musikalisch anmuten, in etwa so als würde ihn eine feine französische Melodie aus vergangener Zeit kaum hörbar bei seinem täglichen Gang ins Büro begleiten. Wenige leise Noten, sanft und dennoch voller Hingabe, gespielt auf den Tasten eines in die Jahre gekommenen Klaviers.
Und auch wenn manchmal der Eindruck entstehen konnte, war er niemals unfreundlich. Er hatte über die Jahre lediglich vergessen, das leise Lächeln, welches er in seinem Herzen nach wie vor trug, seinen Mitmenschen zu zeigen.
Er fühlte sich nur selten von jemandem gestört, war so gut wie nie genervt oder gestresst. Sein ruhiges Wesen trug ihn schlicht und elegant durch die Jahre seines Lebens. Er lebte im Herzen in den Erinnerungen an Früher, weder unzufrieden noch unglücklich mit dem Hier und Jetzt, dankbar für das, was er hatte, begleitet von einer leichten Wehmut.
Seiner festen Überzeugung nach, hatte er alles Glück, was einem Menschen zustehen konnte, bereits erleben dürfen. Und selbst, wenn diese Zeiten der Glückseligkeit bereits vergangen waren, lebte er in einer unbestreitbaren Gewissheit, einer der glücklichsten Menschen zu sein, während seine Mitmenschen ihn aufgrund seiner zurückhaltenden ruhigen Art kaum wahrnahmen.
***
Die Tür zum Imbisswagen stand offen, als sie diesen erreichte. Der Geruch kalten Öls, den sie allabendlich so gründlich wie es nur ging versuchte von sich abzuwaschen, stieg ihr in die Nase. Bereits wenige Schritte weiter wich dieser jedoch einer Mischung aus noch feuchtem Reinigungsmittel und frisch aufgetragenem Billigparfum, welches ihr Kollege täglich zu benutzen pflegte.
Das grelle Licht der an der Decke angebrachten Neonröhre blendete sie. Sie kniff die Augen zusammen. Als sie die Augen wieder öffnete, sah sie ihre Schürze bereits in einer Ecke des Wagens hängen. Ebenso gut hätte sie ihre Augen geschlossen halten können. Jeder Zentimeter dieser Enge, war ihr aufs schmerzlichste bekannt. Jeder Winkel, jedes Regal, jeder Gegenstand hatte seinen festen Platz. Sie wusste wie jedes Detail aussah, wie es roch, wie es sich anfühlte.
Wie sie diese Streifen verachtete. Gewiss, es waren nur Streifen auf einer Schürze. Und dennoch konnte sie diese breiten dunklen Linien, die sich über die vielen Jahre so sehr in ihr Gedächtnis eingebrannt hatten, schlichtweg nicht ertragen. Sie verpasste der Kühltruhe, vor der sie Stand, einen Tritt. Immerhin würde sie so das unermüdlich wiederkehrende Summen dieses Gerätes, das sich mit jeder Sekunde mehr in ihre Gedanken sägte, für einige Augenblicke stoppen können.
Die morgendliche Begrüßung, die tägliche Routine, das Knurren der Kaffeemaschine, die ersten Kunden, dieselben Gesichter…
Sie streifte ihre Schürze über und füllte die ersten Becher mit frischem Kaffee. So sehr sie auch versuchte sich selbst samt Kaffeegeruch an einen anderen Ort zu denken, gelang es ihr nicht im Geringsten.
Sie war stets freundlich, arbeitete gewissenhaft und war den Kunden seitjeher sympathisch. Die ersten tiefgefrorenen Pommes fielen in das erhitzte Öl. Das Zischen ließ die Gespräche für einen Moment verstummen. Die nächste Portion, darauf die Folgende. Der Geruch füllte den Wagen. Kein Waschmittel dieser Welt würde diesen Geruch jemals vollständig aus ihrer Kleidung entfernen können. Sie schaute an sich herunter. Die Streifen.
Sie war einmal attraktiv gewesen. War sie es noch? Sie hob die Pommes aus dem Öl, ließ sie abtropfen, bestreute sie mit Salz, verteilte sie auf die Teller und schob diese still lächelnd den Kunden entgegen.
Nicht einmal sie selbst wusste noch wieso genau sie hier arbeitete. Vor vielen Jahren hatte sie hier angefangen. Vor wie vielen? Sie musste die Miete zahlen. Sie musste arbeiten. Sie zahlte ihre Miete. Sie arbeitete. Von Stunde zu Stunde, von Tag zu Tag. Sie war nicht unglücklich. Sie war nicht glücklich. Sie stand jeden Morgen auf, zog sich an, putzte sich die Zähne, trug routiniert Mascara auf ihre Wimpern, und macht sich auf den Weg. Sie tat es schlicht deswegen, weil sie es gestern schon getan hatte – so wie den Tag zuvor und den dem vorangegangenen.
Es gab lediglich einen Augenblick des Tages, der ihr Innerstes leise lächeln ließ, ohne dass sie selbst zu verstehen vermochte, warum es so war. Vielleicht war es die etwas altmodisch wirkende Eleganz seiner Erscheinung, vielleicht war es der Fluss seiner Bewegungen, der sie ihm jeden Tag aufs Neue mit ihrem Blick folgen ließ; Vielleicht war es die sanfte Traurigkeit, die sie meinte aus der Ferne in seinem Blick erkennen zu können, die sie an sich selbst erinnerte.
Ihre Wege kreuzten sich nicht. Sie verliefen nicht parallel. Sie stand still, hier im Imbisswagen, die gestreifte Schürze übergestreift. Er hingegen war dort, in seinen Erinnerungen, auf der anderen Seite der Straße. Sie sah ihn lediglich wenige Meter auf der gegenüberliegenden Straße entlanggehen, bevor er in der nächsten Seitenstraße jeden Tag aufs Neue wieder verschwand…
***
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