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Erzählung

Poesie im Herzen, Gedanken im Kopf

Dies ist nur eine Geschichte. Eine Geschichte für die hier vermutlich nicht der richtige Platz ist – für die vermutlich nirgends der richtige Platz ist.

Geboren als Sohn einer liebenden Mutter, als Sohn eines Vaters, dazu nicht bereit.

Gewachsen als Sohn einer liebenden Mutter, als Sohn eines Stiefvaters, zwischen Trunksucht und Streit.

Im Haus aus Brettern, so schief wie das Leben – mit Poesie im Herzen und Gedanken im Kopf.

Auf die Umstände seiner eigenen Geburt hat man keinerlei Einfluss. Die Selbstbestimmung, die für uns in unserem Leben so wichtig ist, hat zu Beginn von ebendiesem keinerlei Bedeutung. Wir werden geboren um zu akzeptieren, wer wir sind. Ob Geschlecht, Hautfarbe, Nationalität, die Familie in die wir hineingeboren werden oder ihre finanzielle Situation, all das schreibt da Leben uns vor, ohne uns nach unserer Meinung zu Fragen.

Ich erinnere mich an dich als Jugendlichen. Du halfst mir das schwere Gartentor zu öffnen, gestrichen in einem saftigen Grün, wie man es von frischen Wiesen bei Sonnenaufgang eines Sommertages kennt, in Handarbeit aus schwerem Holz geschnitzt und damit für mich unüberwindbar. Während ich in meiner Kindlichkeit gerade so bis zum Türgriff dieses Tores reichte, warst du gerade auf dem besten Wege erwachsen zu werden. Ich sehe dein sanftes Lächeln, dem eine gewisse Zurückhaltung oder Schüchternheit inne lag, die dennoch nichts an der Geborgenheit änderte, die dein Blick in jenem Moment ausstrahlte. Jene Geborgenheit, die große Brüder, ihren Schwerstern entgegenbringen, wenn das Alter, in dem der kindliche Streit um die Aufmerksamkeit der Eltern oder die beliebtesten Spielsachen überwunden ist.

Wir sind uns nicht häufig begegnet. Das Leben hat es so bestimmt, dass wenn auch unsere Familien verbunden sind, unsere Wohnorte dennoch ein Leben lang weit auseinander lagen. Ich kann mich an weniges Sätze von dir, doch an kein einziges Gespräch zwischen uns beiden erinnern – vermutlich deshalb, weil es nie eines gegeben hat. Dennoch sehe ich bis heute die Klugheit, die Ruhe und eine unbestimmte Traurigkeit in deinem Blick, die mich bei jeder unserer wenigen Begegnungen in ihren Bann zogen.

Ich weiß um die Umstände deiner Kindheit. Während deine Mutter alles daran setze, dich glücklich zu sehen, sah der Mann an ihrer Seite nichts als den Alkohol. Ich erinnere mich an Erzählungen darüber, dass du mit Erlangen deiner Volljährigkeit, ebendiesen Mann aus dem Haus warfst, voller Stolz und Mut, um deine Mutter zu schützen. Und während er niemals wiederkehrte, verließt auch du in Kürze dieses Haus, um endlich die Selbstbestimmung zu erlangen, die dir das Leben bis dahin verwehrte.

Wie dein Leben danach verlief, ist mir so gut wie unbekannt. Wieso sollte es auch anders sein, wir sind quasi Fremde, verbunden mit einem unsichtbaren Band des Lebens, zu jener Zeit, als wir selbst noch keinerlei Einfluss auf dieses hatten.

Als ich das Foto einer Gruppe von Kriegskämfpern in der Zeitung sah, setzte sowohl mein Herz als auch mein Verstand aus. Vermummt in die Kleidung eines Soldaten, sah ich zwischen Gesichtsschutz und Helm, deine Augen. Und während mein ganzer Körper mit den Tränen kämpft, die sich unweigerlich den Weg an die Oberfläche bahnen, versuche ich mir nichts anmerken zu lassen, um nichts davon erzählen zu müssen – ahnend, dass wohl niemandem bekannt ist, wo und ob du noch bist.

Einige Buchempfehlungen von mir findet ihr hier: Literatur Archive

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