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Kurzgeschichte – Die Kutschfahrt

Eine Geschichte aus einer anderen Zeit, inspiriert von einer Erzählung meiner Großmutter. 
Das Selbstverständnis unseres eigenen Daseins ist niemals unumstößlich. 

Es ist mitten im Winter, dicke weiße Schneeflocken segeln zu Boden, während sich der Frost hartnäckig den Weg ins Innere der Häuser sucht. Ich rieche die warme nach Wolle duftende Decke, die meinen Körper fest umschlingt. Die Pferde kommen nur langsam voran. Die Kutsche, die sie hinter sich herziehen, beladen mit mindestens zehn, vielleicht zwölf Menschen sowie diversem Gepäck, wiegt zu schwer um sie elegant und leichtfüßig durch die tiefen Schneemassen ziehen zu können. Ich spüre meinen eigenen warmen Atem, der sich mit einem feuchten Film aus winzigen Tropfen an die Innenseite meines Schals legt.

Das Ziel unserer Reise liegt nicht viele Kilometer entfernt, und doch erscheint sie beinahe unendlich. Das Bedürfnis miteinander zu sprechen, was Menschen für Gewöhnlich bei derartigen Fahrten verbindet, scheint ebenso wie ihre Körper von der eisigen Kälte beinahe erstarrt. Viele von ihnen habe ich in unserem Dorf bereits gesehen. Gesprochen habe ich kaum mit jemandem, denn wofür die meisten Menschen erst klirrenden Frost um sich herum benötigen, ist für mich seit den Kindertagen ein alltägliches Hindernis, welches ich niemals abzulegen gelernt habe. Weder das Wetter noch andere Banalitäten des Alltags kommen mir über die Lippen, wenn ich Menschen begegne. So ist die Stille, welche die heutige Fahrt mit sich bringt für mich so wohltuend, dass sie mich die in die Knochen kriechende Kälte beinahe vergessen lässt.

Der Kutscher, ein alter, vom Leben gezeichneter Mann, ähnlich wortkarg wie ich, und mir nicht zuletzt deshalb besonders sympathisch, unternimmt diese Fahrten einmal wöchentlich. Bei Eiseskälte, stürmischem Wind oder tropisch anmutender Hitze, sehe ich, seit ich denken kann, jeden Dienstag seine Pferde zu dem winzigen Marktplatz inmitten unseres Dorfes schreiten. Der vom Hunger und Schrecken begleitete Krieg, der vor Beginn meines eigenen Lebens bereits beendet war, ist für die meisten Menschen, die ihn erleben mussten, noch so präsent und gegenwertig, als sei sein Ende erst wenige Tage her. So scheint auch unser Kutscher, seit damals noch nicht wieder die richtigen Worte gefunden zu haben, um ein Gespräch zu beginnen.

Die meisten heute Mitreisenden führen ein schlichtes, einfaches Dorfleben, zwischen Feldarbeit und der eigenen Familie. Wehmut und Traurigkeit liegt bei vielen von Ihnen nach wie vor fest in der Seele verankert. Während in anderen Jahrzehnten oder Jahrhunderten unseres Daseins, Menschen danach strebten ein möglichst bewegtes und aufregendes Leben zu führen, ist für die Generation, die die Schrecken des Krieges in sich trägt, genau das Gegenteil erstrebenswert.

Die Pferde tragen uns durch eine Schneelandschaft von atemberaubender Schönheit. Dort wo der Mensch bislang keinen Fußabdruck hinterlassen hat, atmet die Natur noch in ihrer eigenen Frequenz, um sich so in Ihrer vollsten Pracht zu entfalten. Wie schön müssen seinerzeit die Landschaften dieser Erde gewesen sein, als sie noch vollumfänglich sich selbst überlassen waren. Wenn der Mensch eingreift, tut er dies meist ausschließlich zu seinem eignen Nutzen, ohne die Spuren wahrzunehmen, die er dabei hinterlässt. So war es stets und wird sich kaum jemals ändern.

Ich spüre die eisigen Flocken, die mit einem leichten weißen Schimmer meine Wimpern und Augenbrauen nach und nach bedecken, während der Wind mit zunehmender Geschwindigkeit das weiße, glitzernde Pulver zurück Richtung Himmel zu heben versucht.

Eine Fahrt wie diese unternimmt wohl kaum jemand, um die Schönheit der Landschaft zu betrachten. Auch wenn der Krieg nun schon einige Jahre zurückliegt, ist eine kleine Siedlung mit lediglich einigen hundert Einwohnern, wie jene in der wir unser tägliches Dasein verbringen, nur sporadisch mit allem Lebensnotwendigen ausgestattet. Während Garten und Hof uns im Sommer mit ihren Früchten ernähren, sind die kalten Wintermonate von Fahrten in die benachbarte Stadt geprägt, um sich mit dem Notwendigsten einzudecken.

Eine Frau, die den Platz neben mir auf der Ladefläche der schlichten aus Holz gezimmerten Bauernkutsche einnimmt, atmet schwer, während sie immer wieder ein Stöhnen zu unterdrücken versucht. Die Wölbung in ihrer Körpermitte ist selbst unter den vielen Bekleidungsschichten und schweren Decken nicht zu übersehen. Die Geburt eines Kindes hier inmitten des Nichts aus gefrorenem Weiß, kann ich mir kaum vorstellen, trotz ihrer so real existierenden Möglichkeit. Das Krankenhaus, welches aus gutem Grund der erste Halt unserer heutigen Reise sein wird, ist das einzige in einem gewaltigen Umkreis, bestehend aus etlichen Siedlungen, voller Menschen, die im Ernstfall ihr Schicksal zunächst einmal dem Kutscher und seinen Pferden anvertrauen, bevor sie sich in der vermeintlichen Sicherheit eines Krankenhauses wiegen können.

Wenn alles gut geht, werden wir sicher noch eine gute Stunde brauchen, um die erste Station unserer Fahrt zu erreichen. Von dort aus geht es weiter zur Stadtmitte, wo der Marktplatz, trotz der eisigen Kälte, gefüllt mit verschiedensten Ständen und ihren Angeboten auf uns warten. Jeder, der die Möglichkeit sieht, das was er selbst entbehren kann, für etwas Geld an jemanden anderen zu verkaufen, steht hier von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang und hofft auf den richtigen Käufer. Doch bis dahin warten noch etliche Kilometer endloser Schneelandschaft darauf, von uns durchquert zu werden. Das Schnauben der Pferde klingt immer mühsamer, während der Wind sich immer mehr in einen Wintersturm verwandelt.

Im Gegensatz zu den übrigen Mitfahrenden, scheint dem Kutscher der aufkommende Sturm keinerlei Sorgen zu bereiten. Er zügelt sein Gespann ein Wenig, um sich dann auf seinen mit einem Schafsfell bedeckten Sitz zurückzulehnen und stets das Ziel vor Augen, einen Schritt nach dem anderen abzuwarten. Während das Schneetreiben uns einer gewaltigen Schneeverwehung gleichen lässt, können wir die Stadt mittlerweile als eine schmale dunkle Zeile an einem Horizont aus purem Weiß erkennen.

Ein plötzlicher Ruck lässt das Gespannt erbeben. Ich höre einen Aufschrei der werdenden Mutter neben mir, und bin mir zunächst nicht sicher, ob das Erbeben des Pferdewagens oder eine erneute Wehe der Grund für ihren Ausruf ist. Ich schaue mich um und lese den Schrecken in den mich umgebenden Gesichtern, während der Kutscher von seinem Sitz springt und zu den Pferden stürzt.

Eines der Pferde kann ich von meinem Platz aus nicht mehr erkennen, während das zweite mittlerweile in die Jahre gekommene Tier stolz wie eh und je vor Kraft strotzend sein Gesicht fast trotzig dem Sturm entgegenhält. Einige mitreisende Männer stehen auf und eilen ebenfalls nach vorn, um dem Kutscher zu helfen. Sie versuchen das erschöpfte Tier mühevoll, und dennoch in liebevoller Fürsorge wieder aufzurichten.

Die unteren Schneeschichten des Weges, plattgefahren von diversen Anreisenden aus den umliegenden Siedlungen gleichen einer Rutschbahn, die mit einer frischen Pulverschicht überzogen ist. Immer wieder schlittern die Hufe des verzweifelten Tieres bei den Versuchen aufzustehen. Einige weitere Personen erheben sich von ihren Plätzen, um ihre Unterstützung anzubieten, auch wenn die wirbelnden Schneemassen um uns herum kaum erkennen lassen, was eigentlich vor sich geht. Ich bleibe sitzen. Nicht aus Mangel an Hilfsbereitschaft oder Initiative, vielmehr aus dem bloßen Bewusstsein heraus, dass weder meine Statur noch meine Kraft auch nur im Geringsten zur Lösung des Problems beitragen können.

Die linke Hand meiner Sitznachbarin umschließt meine rechte Hand. Ich spüre den zunehmenden Druck und sehe ihr schmerzverzerrtes Gesicht und die Angst in ihren Augen.

Für die meisten von uns geht es darum das Ende des Sturms, vielleicht Hilfe aus der Stadt abzuwarten. Zweifellos kommen wir später an als geplant und dennoch sind derartige Schneestürme in unserer Gegend nichts Besonderes. Wer sich im tiefsten Winter auf den Weg macht, dem sind die Bedingungen der Reise von Beginn an klar. Lediglich die Natur selbst entscheidet, welches Wetter sie uns mit auf den Weg gibt, in welcher Laune sie uns begleitet und wie viel Zeit und Kraft sie uns auf der Reise abverlangt.

Doch ebendiese Natur ist es auch, die am heutigen Tage mehrere Entscheidungen zu treffen hat. Der Schnee, die Glätte, der Sturm, die Geburt eines Kindes – ich frage mich, ob die Natur in solchen Situationen ähnlich wie der Mensch überfordert sein kann und hoffe mit ganzem Herzen auf das Gegenteil.

Durch einen dichten Vorhang aus weißen Flocken, die immer schwerer zu werden scheinen, sehe ich den Kutscher sich uns nähern. Er nimmt seinen Platz ein. Während es um uns herum langsam heller zu werden beginnt, klettern auch alle anderen, halb gelähmt vom Frost und unbeweglich durch die zahlreichen Bekleidungsschichten, auf den Wagen. Ich spüre erneut zunehmenden Druck auf meiner Hand. Ein leichter Ruck durchzuckt den Wagen. Das langsame Schwanken der Welt um mich herum, lässt mich erahnen, dass der Wagen sich wieder in Bewegung setzt. Die innere Wärme, die mir diese Tatsache beschert, lässt mich für einen Augenblick die Eiseskälte um uns herum vergessen.

Die Erleichterung, welche wohl alle Mitreisenden in diesem Moment empfinden, scheint beinahe auch den Wagen leichter werden zu lassen. Die herabfallenden Schneemassen werden von Minute zu Minute weniger, sodass nun auch die beiden Pferde wieder deutlich zu erkennen sind. Kräftig, stolz, erfüllt von einer unbeschreiblichen Ruhe, als wäre der soeben durchlebte Kampf nie geschehen, schreiten sie der Linie entgegen, die sich zunehmend in winzige Häuser verwandelt.

Die Natur hat sich entschieden, geht mir durch den Kopf.

Die Häuserzeile am Horizont nimmt nun immer mehr Gestalt an. Die ersten Sonnenstrahlen durchbrechen den grauen Vorhang über uns. Was eben noch eine kaum beschreibbare Masse aus Weiß- und Grautönen gewesen ist, verwandelt sich innerhalb von Sekundenbruchteilen in ein Meer aus glitzernder Farbenpracht.

Der Kutscher springt von seinem Platz und läuft in das schneeweiß gestrichene Gebäude, welches nun direkt vor uns in die Höhe ragt. Auf seinem Rückweg zum Pferdewagen begleiten ihn zwei Sanitäter, die sich dranmachen, die werdende Mutter auf eine Trage zu legen. Ich sehe die Erleichterung in ihrem Gesicht, und spüre eine Träne der Erleichterung über meine eigene Wange zu Boden gleiten. Ich weiß, dass alles gut werden wird. Die Entscheidungen der Natur sind unumstößlich. So war es stets und so wird es wohl immer bleiben.

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2 Kommentare zu „Kurzgeschichte – Die Kutschfahrt“

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