Die U-Bahn-story
Ich schaue aus dem Fenster und sehe eine Welt in Weiß. Es wird nicht lange so bleiben, geht mir durch den Kopf. Bereits für das Wochenende ist Tauwetter angesagt. Diese hüllt die Welt in ein nasses, tristes Grau, welches nicht nur Straßen und Häuser, sondern auch einen selbst zu verschlingen vermag. Selten ist mir jemand begegnet, bei dem das Grau eines verregneten, kalten Wintertages positive Gefühle weckt. Dabei spiegeln Gefühle nicht immer den gegenwärtigen Moment, sondern sind viel häufiger mit unseren Erinnerungen verbunden.
Ist die Chance darauf, dass an einem unansehnlich grauen Tag etwas Positives passiert, an das man sich in einer fernen Zukunft gerne erinnert, also so viel geringer als an Tagen, an denen bereits das Wetter den Menschen ein Lächeln ins Gesicht zaubert?
Ich wische die Gedanken an das Wetter aus meinem Kopf und packe meine Tasche. Das Übliche, das Nötigste, eine Routine, der automatisierte Ablauf einer Fließbandproduktion. Als würde das Leben daraus bestehen, am Fließband die eigene Tasche zu packen, während draußen je nach Wetterlage ein positiver Tag voller Erinnerungen oder die Tristesse von Grau auf einen wartet.
Ich betrete das Treppenhaus. Während mich das Gefühl beschleicht, dass das Grau des Betons im Gegensatz zu dem Grau des Regens, die Meschen scheinbar weitaus weniger abschreckt, rennen in Windeseile Kinder an mir vorbei. Sie öffnen die Außentür. Ich sehe sie in den Schnee hineinspringen, gefolgt von Jubel und Freudenrufen. Mir ist bewusst, dass die meisten Kinder danach streben, so schnell wie möglich erwachsen zu werden. Als Erwachsener hingegen wünscht man sich die Unbeschwertheit der Kinderwelt zurück.


Ich gehe hinaus auf die Straße. Auch wenn das Grau erst für das Wochenende angekündigt ist, kriecht der Gedanke daran, mir bereits jetzt in die Glieder. Der Weg zur U-Bahn ist nicht lang. Geradeaus, rechts, links, dann über die Straße, deren Ampelphase unmöglich ein rechtzeitiges Überqueren zulässt. Ich sehe Menschen, Menschen in all ihren Facetten. Wie merkwürdig, dass die Menschen trotz ihrer unübersehbaren Unterschiedlichkeit, es dennoch schaffen andere wegen ihres Andersseins auszugrenzen.
Während das Tuckern der Bahn auf den Schienen immer näher kommt und diese schließlich den Bahnsteig erreicht, sehe ich auf der anderen Seite der Schlucht, die sich durch die dazwischenliegenden Bahnschienen bildet, eine ältere Dame auf einer Bank sitzen. Sie blickt in die Richtung der heranrauschenden U-Bahn, ihre Haare zu einem festen Knoten frisiert, die Handtasche fest umschlungen auf ihrem Schoß, wie es für Damen ihrer Generation und ihres Alters üblich zu sein scheint. Ich steige ein. Die Dame erhebt sich von der Bank und blickt in meine Richtung, das weiche Lächeln schmeichelt ihrem Gesicht. Die U-Bahn setzt sich in Bewegung. Unweigerlich muss ich an meine Großmutter denken. Wärme, Zärtlichkeit, Fürsorge gehüllt in einen Mantel voller Kraft, geprägt von den Herausforderungen eines langen Lebens. Ich suche einen Platz in der Masse der Menschen. An einen privaten Raum, einen Abstand, der den Menschen ermöglicht frei ein- und auszuatmen, ist in einer U-Bahn in den Morgenstunden kaum zu denken. In der Enge, die mich immer weiter verschlingt, spüre ich deinen Blick auf meinem Rücken haften. Ich kenne weder deinen Namen noch dein Alter oder Geschlecht, ich sehe nicht dein Gesicht, nicht deinen Körper und dennoch löscht deine Präsenz für einen Augenblick alles um mich herum – ein Zustand der Schwebe, ich alleine getragen von deinem Blick.
Während meine Neugierde mir befielt mich umzusehen, strebt meine Seele danach, nicht zu erfahren, wer du bist oder wie du aussiehst. Nichts aus deiner Welt soll in meine gelangen. Trotz der Enge, die mir die Luft zum Atmen nimmt, kann der Moment an Perfektion nicht mehr dazugewinnen. Während das unsichtbare Band, das uns im Moment verbindet, von der Elektrizität des Augenblicks geladen, uns an einander zu ziehen beginnt, schaukelt die U-Bahn weiterhin belanglos von ihrer rechten Seite zu ihrer linken. Meine Gedanken überschlagen sich. Während die Romantik in mir sich danach sehnt, dir in die Augen zu sehen, mit dir ein nicht enden wollendes tiefgründiges Gespräch über Banalitäten zu führen, mich in dich zu verlieben, schreit mein Körper bereits nach der Flucht. Nichts in mir, war jemals dazu in der Lage ein belangloses Gespräch mit einem Fremden zu führen. Eine derartige Unfähigkeit, hat die unabdingbare Stagnation jeglicher Situation zur Folge. Während ich meinen Namen sehr wohl beherrsche, kann mich jede weitere Frage in einem derartigen Gespräch gnadenlos überfordern. Eine Masse an Gedanken und Antwortmöglichkeiten, verursacht eine Art Lähmung meines Verstandes ebenso wie meiner Fähigkeit zu sprechen. Niemand, dem dieses Gefühl nicht von sich selbst bekannt ist, wird es wohl je nachvollziehen können.


Ich schaue mir die vorbeirauschende Stadt hinter dem U-Bahnfenster an, soweit ich sie zwischen die Menschenmassen hindurch erkennen kann, bemüht nicht dein Spiegelbild in ebendiesem Fenster zu erblicken. In meinen Gedanken sehe ich uns in einer leeren U-Bahn einander gegenübersitzen. Während die Vorstellung deines smarten Lächelns meine Fluchtpläne nur noch weiter verstärkt, scheint die Fahrt der leeren U-Bahn von weitaus größerer Gelassenheit geprägt.
Du fragst mich woher ich komme. Eine Frage, die wohl die meisten Menschen mit einem einzigen Wort, vielleicht mit einem beiläufigen Beisatz beantworten können. In meinem Kopf entfaltet sich hingegen eine riesige Landkarte endloser Formulierungsmöglichkeiten. Nichts an meiner Herkunft ist in einem Satz beantwortbar. Während ich meine Kindheit irgendwo zwischen dem Zauberer von Oz und Michel aus Lönneberga verbrachte, verlief meine Jugend weniger zauberhaft irgendwo zwischen der innigen Freundschaft zu einem Flüchtlingsmädchen, die bis heute so innig wie eh und je besteht, und den weißen Schnürsenkeln, die sich wie elende Schlangen des Hasses durch die Löcher der Springerstiefeln von Klassenkameraden zogen. Für all das sind die Orte des damals Geschehenen, und selbst die Zeitpunkte vollumfänglich irrelevant. Niemand auf der Welt wird dies wohl in einen Smalltalk verpackt bekommen, doch schlicht einen Ort zu nennen, widerspricht jedweder Wirklichkeit. Ich sehe mich lächelnd abwinken, ein „das ist kompliziert“ scheint angemessen, beraubt uns jedoch jeder Möglichkeit von Gemeinsamkeiten oder weiterer Gesprächsgrundlagen. Stagnation.
Während die Bahn sich langsam meiner Zielhaltestelle nähert, spüre ich deinen Blick nach wie vor auf mir ruhen. Du bist nicht nah. Eine Masse an Menschen steht zwischen uns, ebenso wie ich selbst. Die Bahn hält, die Türen öffnen sich, ich steige aus. „Die Türen schließen“ schallt es durch den Lautsprecher. Ich drehe mich um und sehe dich, dein zartes Gesicht, dein sanftes zurückhaltendes Lächeln, durch die sich schließende Doppeltür. Ich weiß, dass du es bist, ohne es zu wissen.
Die ersten Schritte Richtung Ausgang fallen mir schwer, auch wenn ich nur noch den allerletzten Wagon um die Kurve abbiegen sehen kann.
Während ich routiniert dem Weg zu meiner Arbeitsstätte folge, sitzen wir in meinen Gedanken uns noch immer gegenüber. Du streifst zärtlich, wie beiläufig über meinen Handrücken, und sagst, du hättest den Zauberer von Oz ebenso gern gelesen…


Eine weitere Geschichte von mir findest du hier Poesie im Herzen, Gedanken im Kopf
Diese Geschichte finde ich besonders gut. Ich mag den Stil und die Welt darin.
Ich danke dir! Sie liegt mir auch sehr am Herzen.