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Erinnerung

Birkenwald und Busfahren

Da ist sie wieder, die leere Seite, die mich herausfordert, ihren spitzen Degen zückt, um herauszufinden, wer der Stärkere von uns beiden ist. Ich bin mir sicher in ihrem Innersten, lässt sie bereits die Sektkorken knallen, weil sie meint gewonnen zu haben.

Ich schließe den Laptop, verlasse das world wide Spinnennetz, dass jeden, ob gewollt oder nicht in seinen klebrigen Bann zieht, um ihn nicht mehr kampflos freizugeben. Dort wo eine Geschichte voller Anmut, Nachdenklichkeit, Schwermut, Menschlichkeit oder Leichtigkeit entstehen sollte, klafft noch immer das große Nichts.

Ich greife nach meinem Block.

Schreibe ich nun also eine Geschichte über die Abwesenheit ebendieser? Oder beginne ich mit den üblichen banalen Floskeln, die jeder halbwegs belesene gleich durchschaut. Das eine widerstrebt mir so sehr wie das andere. Ich versuche in meinen Erinnerungen zu kramen, sie zu durchforsten, von links nach rechts zu wenden – nichts. Das sollte einem schon zu denken geben, denn Erinnerungen sind schließlich ein unabdingbarer Teil unseres Ichs, unserer Persönlichkeit, unserer Identität. Nichts in unserem Leben bestimmt unser Wesen so sehr wie die Erinnerungen, die wir in uns tragen – je früher desto prägender, je emotionaler, desto länger präsent, je dramatischer, desto belastender – für das ganze Leben.

Schlussendlich sind wir alle noch die Kinder, die wir waren, bevor Jahre ins Land gezogen sind, unser Äußeres veränderten, uns mit dem, was man so schlicht Schicksal nennt, beglückten oder belasteten und uns durch das Labyrinth des Lebens scheuchten. Meins scheuchte mich bereits als Kind über Tausende von Kilometern in ein anderes Land, auf einen anderen Kontinent, in eine andere Kultur und eine fremde Sprache. In eine Sprache ohne die ich inzwischen nicht mehr kann, weil sie und ihre Worte schlicht als Ventil meiner Seele dienen.

Ich schreibe keine Geschichte über Auswanderung oder Flucht, keine über eine Willkommenskultur, über Rassismus oder Heimatverbundenheit, denn täte ich dies, sähe ich vor meinem inneren Auge schon die Steine fliegen. Nicht solche Steine, wie die, die damals vor Jahrzehnten durch die Scheibe unseres kleinen, günstigen und dennoch hart ersparten Autos flogen und diese zerstörten, um uns zu zeigen, wie sehr man unsere Ankunft in diesem Land schätzt. Nicht die Art von Steinen. Heute sind die Steine oft weniger physisch, sie fliegen mit voller Wucht durch die Nullen und Einsen des Internets. Doch sie treffen, verletzen, zerstören.

Ich schreibe nicht von den Gerüchten, wir würden stehlen. Ich schreibe nicht von den Springerstiefeln auf der Rückbank des Schulbusses, die mich nie aus ihren Augen ließen, um mir ihre Macht zu demonstrieren. Niemals würde ich darüber schreiben, denn was weiß ich schon – ich war damals noch ein Kind. Und vor allem – es gibt Schlimmeres – zweifelsohne, täglich, ständig, überall.

Niemand sollte in seinen Erinnerungen kramen, der diese Büchse nicht so einfach wieder geschlossen bekommt…

Und Heimat? Heimat ist ein ebenso furchtbares Phänomen unserer Gesellschaft wie Nationalität. Ganz sicher schreibe ich nicht über Heimat. Denn das Vorhandensein von Heimat führ zu Ausgrenzung, Hass und Rassismus. Für mich habe ich vor etlichen Jahren schlicht entschieden keine zu brauchen. Ich habe ein Zuhause, das dort ist, wo ich bin. Ich habe eine Vergangenheit, die dort war, wo sie war. Alles andere ist überflüssig. Weder die geographische Lage noch die politischen, religiösen, nationalen oder gesellschaftlichen Gegebenheiten an diesen beiden Orten, sind von irgendeiner Relevanz. Ich schreibe nicht über Heimat.

Vor allem schreibe ich nicht über all das, um nicht denen zu nahe zu treten, die keine Steine warfen, die keinen Hass empfanden, all denen, die es schlicht nicht gewesen sind, weder damals noch heute. Denn die meisten waren es nicht. So gut wie niemand war es. Es waren nur ganz wenige, einzelne, vielleicht einer oder zwei. Ihre starke Präsenz in meiner Erinnerung ist lediglich dem geschuldet, dass ihre Steine trafen, verletzten, zerstörten. Ich sollte nicht über all dies schreiben, weil es Menschen gibt, die es weitaus schlimmer trifft – jeden Tag, jeden Moment, in diversen Situationen, manche ihr ganzes Leben lang. Verglichen mit derer ist meine Erinnerung lediglich ein kleiner dunkler Fleck auf einer weißen Tischdecke des Lebens. Einer der stört, einer der sich nicht rauswaschen lässt – und dennoch nur ein winzig kleiner Fleck.

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